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Maximilian R. Schlechtinger

Jenseits von Gut & Böse

INTRO

Einführung

Dieser Essay beschreibt meine Erfahrungen bei der Lektüre von „Jenseits von Gut und Böse“, des Autors Friedrich Nietzsche. Es stellt keine vollumfassende Untersuchung des Werkes dar, jedoch einen Abriss über markante Punkte und Ideen. Wie so viele Werke der Philosophie hat auch dieses stark vom Zeitgeist seiner Entstehung gelebt und sollte auch unter diesem Gesichtspunkt gelesen werden. Doch ebenso lohnt es sich, den Untertitel des Werkes betrachtend, aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts darauf zu schauen. Nietzsche spricht von einer Philosophie der Zukunft. Der Frage, welche Zukunft das sein kann und ob wir eventuell gerade in dieser Zeit leben, möchte sich dieser Essay nähern.

Warum dieses Buch?

Ich habe „Jenseits von Gut und Böse“ als Untersuchungsgegenstand ausgewählt, da ich mir erhoffte durch die Lektüre eines über einhundert Jahre alten Buches meine Perspektive auf gewisse Aspekte unserer gegenwärtigen Zeit zu erweitern. Es lohnt sich stets diejenigen Texte in die Hand zu nehmen, welche dem Zahn der Zeit trotzen konnten. Ich denke, „Jenseits von Gut und Böse“ ist ein solches Buch. Die Informationsdichte, der sprachliche Witz und der philosophische Weitblick regen noch immer zu Diskussionen an. Wenn man Nietzsche lesen möchte, dann bieten sich einige Werke als brauchbare Startpunkte an. Da wären „Also, sprach Zarathustra“[1], „Menschliches, Allzumenschliches“[2], und auch „Ecco Homo“[3]. Ich erfuhr von „Jenseits von Gut und Böse“ in einem Online-Vortrag des kanadischen Professors Dr. Jordan B. Peterson[4] und seiner Interpretation des ersten Kapitels[5]. Seine Aussagen über die Aktualität des Textes ließen mich neugierig werden und ich beschloss, auf eigene Faust nachzuforschen.

Meine Motivation

Natürlich wird Nietzsche, als Autor, oft vorschnell mit dem Nihilismus und dem tragischen Ende seiner Lebensgeschichte in Verbindung gebracht. Um ehrlich zu sein, wurde ich auf dieses Buch angesprochen mit: „Das macht doch depressiv?!“. Es macht jedoch nicht depressiv, lediglich einsichtiger.
Das Gesamtwerk von Nietzsche ist umfangreich und facettenreich und mir fehlte lange Zeit der Einstieg in seine Schriften. Mit der Lektüre von „Jenseits von Gut und Böse“ erhielt ich genau diesen Einstieg.

Nietzsche wird ebenso mit einem enormen Weitblick beschrieben. Jordan Peterson las aus seinen Schriften eine Vorahnung der politischen Wirren des zwanzigsten Jahrhunderts[6], insbesondere des russischen Sozialismus und der deutschen Judenverfolgung. Mir stellte sich die Frage, ob ich das selbstständig in Nietzsches Schriften überprüfen konnte. Da der Untertitel von „Jenseits von Gut und Böse“ darauf Aufschluss gibt, wollte ich hier beginnen und las somit das „Vorspiel zu einer Philosophie der Zukunft“.

HAUPTTEIL

DER AUTOR – FRIEDRICH WILHELM NIETZSCHE

Leben und Wirken

Friedrich Wilhelm Nietzsche wurde 1844, im damals noch preußischen Röcken (heute Sachsen-Anhalt) geboren. Er studierte zunächst Theologie, wechselte dann zu Philologie in Bonn und später nach Leipzig. Während seiner Ausbildungszeit widmete er sich vielen Fragen der Kultur, Musik und Lyrik. Er schrieb zahlreiche Werke und Abhandlungen, sowie Kompositionen und Poesie. Seine eigenwillige und oft beharrliche Persönlichkeit machten es schwer, ihn einem bestimmten Stil zuzuordnen. Im Alter von 24 Jahren wurde er als außerordentlicher Professor an die Universität Basel berufen. Nach diesem Landeswechsel entsagte er auf eigenen Wunsch der preußischen Staatsbürgerschaft und war daraufhin staatenlos.

Mit Nietzsche wird gemeinhin der Nihilismus in Verbindung gebracht. Philosophisch bewegte er sich zunächst in den Ideen Hegels[7] und neigte sich später immer näher den Gedanken Schopenhauers[8] zu.  Da er nicht nur kulturell und philologisch interessiert war, sondern auch musikalisch, begann er früh eine Bewunderung für die Musik Richard Wagners zu empfinden. Zu diesem baute er nach 1868 Kontakt auf und zählte zeitweise zu seinem Freundeskreis. Wagner muss wohl eine Art Vaterfigur für den Halbwaisen Nietzsche ausgefüllt haben.

Im Alter von 55 Jahren stirbt Friedrich Nietzsche in Weimar. Seinem Tod waren ein langer Leidensweg und geistiger Verfall vorausgegangen. Ab 1889 war er nicht mehr in der Lage zu arbeiten und seine Lehrtätigkeit auszuüben. Die Wissenschaft beschreibt die Todesursache entweder als Spätfolge einer Syphilis-Erkrankung oder als eine genetisch bedingte CADSIL[9].

Seine Berühmtheit als Intellektueller und als Schriftsteller erlebte er nicht mehr bewusst. Das meiste lag ohnehin nach seinem Tod im Jahr 1900. Er selbst beschreibt es mit:Ich komme zu früh, […] ich bin noch nicht an der Zeit. Dies ungeheure Ereignis ist noch unterwegs und wandert – es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen.“[10].

Obwohl große Teile seiner Gedanken von der Perspektive des Einzelnen und der Erarbeitung eigener Werte sprechen, wurde er von den Propagandisten des Nazi-Regimes instrumentalisiert. Gerade seine Vorstellungen des Übermenschen[11], einem Wesen, welches seine eigenen Werte erschaffen kann, wurde aus dem Zusammenhang genommen und zur Untermauerung der Rassenideologie[12] genutzt.

DAS WERK – „JENSEITS VON GUT UND BÖSE“

„Jenseits von Gut und Böse“ wurde 1886 auf eigene Kosten von Nietzsche publiziert und trägt den Untertitel „Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“[13] Es stellt einen Übergang von Nietzsches sogenannter Mittlerer Schaffensperiode zu seinem Spätwerk dar[14]. Er selbst bezeichnet diese Schaffensphase als die Verneinung.

Das Buch ist in insgesamt 296 Aphorismen unterschiedlicher Länge gegliedert. Diese sind vom Autor kapitelweise (sog. „Hauptstücke“) zusammengefasst. In den für Nietzsche typischen knappen und informationsdichten Abschnitten drückt er seine Gedanken aus. Durchbrochen wird die Struktur von einem Zwischenspiel, sowie von einem Nachgesang am Ende des Buches abgerundet.

ZUSAMMENFASSUNG DES INHALTS

Nietzsche bearbeitet in „Jenseits von Gut und Böse“ eine erhebliche Menge an Gedanken und Ideen. Es geht unter anderem um Perspektive, Wahrheit, Dogmatismus, Macht, Religion und Moral. Da sich das Werk zu Beginn seiner Spätphase befindet und somit in die Zeit fällt, die er selbst als die Verneinung betitelte, enthält es eine große Menge scharfer Kritik an vorherrschenden Philosophieschulen seiner Zeit, ebenso an Lebensweisen, Moralvorstellungen und dem Christentum als Institution.

Vorrede

Die Vorrede des Buches lässt sich mit einem knappen Statement zusammenfassen: Dogmatismus ist zu Ende! Nietzsche schließt an die Vorrede ein Kapitel zu den „Vorurteilen der Philosophen“[15] an und stimmt den Ton für den einleitenden Teil des Buches an. In seiner Wahrnehmung ist „alles Dogmatisieren in der Philosophie, so feierlich, so end- und letztgültig es sich auch gebärdet hat, doch nur eine edle Kinderei und Anfängerei gewesen“[16]

Nietzsche beschreibt auch das Ziel des Buches, nämlich den Freidenkern zu Fortschritt zu verhelfen. Er sagt: „Aber wir, die wir weder Jesuiten noch Demokraten, noch selbst Deutsche genug sind, wir guten Europäer und freien, sehr freien Geister – wir haben sie noch, die ganze Not des Geistes und die ganze Spannung seines Bogens! Und vielleicht auch den Pfeil, die Aufgabe, wer weiß? Das Ziel …“[17]

1. Hauptstück – Von den Vorurteilen der Philosophen (§1 – §23)

Bevor Nietzsche auf inhaltliche Punkte zu sprechen kommt beginnt er seine Kritik der Philosophie ganz vorn, nämlich bei Platon und dem Guten im Menschen. Es liest sich mehr wie der Beginn einer bewusst überspitzen Streitschrift gegen alles Althergebrachte und Bisherige. Der Titel „Von den Vorurteilen der Philosophen“ ist natürlich ebenso zugespitzt, jedoch erklärt sich Nietzsche schnell. Als erste Handlung der Wissenschaft stehe das Wagnis, den Willen zur Wahrheit zu haben (§1). Die Philosophie neigte dazu, Meinungen als Wahrheit zu verkaufen und sich erst danach um die Begründung ihrer Aussagen zu bemühen (§5). Es werde sehr viel um Dinge herumgeredet und diese als Neuheit verkauft, obwohl es sich um ähnliche Gedanken in anderen Worten handeln würde (§20). Wahrheit spielt für Nietzsche eine große Rolle, denn sein Glauben an die ebensolche scheint erschüttert. Ganz bewusst greift er die plakative Frage Kants nach synthetischen Urteilen a priori an und fragt, ob der Glaube an den Wahrheitsgehalt dieser Urteile überhaupt nötig sei (§11). Nietzsche ist Fallibilist und somit auch chronischer Skeptiker. Wahrheit ist im Gebäude seines Denkens grundsätzlich anzweifelbar. Er sieht sich selbst auch nicht als den Erkennenden der Wahrheit, sondern vielmehr als denjenigen, der sie ausspricht. Für ihn ist der Reiz einer Theorie auch ihre Widerlegbarkeit (§18). Er schließt das Kapitel mit einer Bemerkung zur Natur des Menschen und nennt die Psychologie als ein Weg zu den Grundproblemen, da sie sich mit dem Menschen beschäftigt, ohne moralische Vorstellungen anzusetzen.

2. Hauptstück – Der freie Geist (§24 – §44)

Im zweiten Hauptstück beginnt Nietzsche mit seiner Aufgabe den Beruf des Philosophen zu erklären. Schon hier beginnt er, seine Zeitgenossen mit den noch kommenden Philosophen zu kontrastieren. Ihre Philosophie sei immer eine Wissenschaft, sie somit eine Vereinfachung der Wirklichkeit sei; dadurch aber auch eine Fälschung (§24). Das eigene Weltbild ist wie ein paradiesischer Garten in dem alles noch als heile Welt erscheint. Schließlich steht in Eden auch immer der Baum der Erkenntnis. Nietzsche bezeichnet den Drang der Philosophie, diese Erkenntnis zu zerlegen als ein Martyrium (§25). Der gewöhnliche Student würde sich stets mit seiner Erkenntnis einigeln und den Kontakt zur Welt scheuen (§26).

Im gesamten Hauptstück erklärt Nietzsche den Menschen und seine Suche nach der Wahrheit. Jene Wahrheiten, die dafür sorgen können, dass man sein altes Weltbild nicht wiedererkennt, denn die „Unabhängigkeit [davon sei] ein Vorrecht der Starken“ (vgl. §29). Nietzsche zeichnet sich auch durch eine Kritik an eben diesen „Starken“ aus. Das Zusammenleben der Menschen sei teilweise durch das Verhalten von Trieben zueinander geprägt (§36), denn „von innen gesehen“ ist es nichts weiter als ein weiterer „Wille zur Macht“.

Nietzsche geht auch mit „dem Populären“ hart ins Gericht und fragt den Leser ganz provokant „Wer zwingt euch, populär zu reden?“ (§37). Mich hat das an seinen Zeitgenossen Oscar Wilde erinnert, ebenso plakativ mahnt dieser Everything popular is wrong![18]. Nietzsche sieht sich als Vorbote einer grundverschiedenen Nachwelt. Diese Nachwelt wäre in ihrer Weltanschauung so anders, als dass sie die Vergangenheit so lange interpretiere, bis die eigentliche Geschichte dahinter verschwindet (§38). Schlecht sei das allerdings nicht, denn so bliebe mehr Raum für die tiefgehenden Fragen des Lebens. „Jeder tiefe Geist braucht eine Maske“, sagt Nietzsche (§40) und auch das erinnert an Wilde und „Man is least himself when he talks in his own person. Give him a mask and he will tell you the truth“[19]

Zu guter Letzt kontrastiert Nietzsche die “neuen Philosophen” mit einer Gruppe Menschen, die er “Nivellierer” tauft (§44). Dies wird im weiteren Verlauf des Buches wichtig, als es um die Gleichmacherei bestimmter Menschengruppen geht. Hier schimmert der erste Teil seiner Sozialismuskritik durch. Die wahren freien Geister würden einen sehr schlechten Stand haben.

3. Hauptstück – Das religiöse Wesen (§45 – §62)

Im Dritten Hauptstück beginnt die Kritik am institutionellen Christentum, wie sie Nietzsche versteht. Das Christentum habe sich seit dem alten Rom gewaltig gewandelt. Es sei nicht mehr das von „Luther, oder Cromwell“, sondern verlange Opferung der eigenen Freiheit, Selbstaufgabe und das Aufgeben von Stolz (§46). Nietzsche nennt den Hang der Menschen zu Religion schlichtweg eine „Neurose“ (§47) in welcher Wunder eigentlich nur Interpretationsfehler sein. In seiner Wahrnehmung kann auch ein schlechter Mensch nicht plötzlich ein Heiliger sein und so behandelt werden.

Er geht das Christentum als gesellschaftliche Organisation hart an. Die antike griechische Religion war voller Dankbarkeit (vgl. §49), das Christentum funktioniere nur durch Furcht. Nietzsche erklärt dies sogar mit dem Aufkommen der Gesellschaftsschicht des Pöbels; die Unterschicht sei auf diese Weise viel leichter zu lenken gewesen. Auch die Bücher der Bibel hätte man nicht in der heutigen Weise zusammenstellen dürfen und erst recht nicht das Alte und Neue Testament zusammenlegen (§52). Das Alte Testament sei einfach zu mächtig. Gleichzeitig entthront Nietzsche Gott in seiner Symbolik. Er habe seine Funktion als Vater, Richter und als Belohner nicht nur verloren (§53), vielmehr sei sie sogar  widerlegt worden.

Die Reife des Menschen als Gesellschaft verlange einen Dreischritt an symbolischen Opfern: Erst Menschenopfer, dann Instinkte und Triebe und schließlich Gottesgestalten (§55). Von der präantiken Zeit bis hin zu seinem bekannten Ausspruch „Gott ist tot und wir haben ihn getötet“[20] passt dieser Dreischritt. Dieser Gedanke, die Gottesgestalt am Ende auch selbst loszuwerden findet sich später in den mystischen Vision Carl Jungs wieder. Im Roten Buch schreibt er „ich hatte meinen Herrn und Gott zu töten. […] Unsere Götter wollen überwunden werden, denn sie bedürfen der Erneuerung.“[21]

Doch auch gegen den dadurch aufkommenden Pessimismus hat er ein Rezept. Würde man diesen konsequent zu Ende denken, so habe man das „Weltbejahende“ und „Lebensbejahende“ (§56), doch diese Entwicklung sei mit Vorsicht zu genießen. Je mehr man Begriffe des Göttlichen verstehen würde, desto unwichtiger würde sie werden („Wie Spielzeug in der Hand eines alten Mannes“ [siehe §57]).

Das Kapitel schließt mit einer Kritik an der Herrschaftlichkeit von institutioneller Religion. Sie sollte an und für sich nicht souverän sein (§62), denn sonst wäre sie nur „Ein Mittel mehr, um Widerstände zu überwinden, um herrschen zu können“ (§61). Diese Gedanken zeigen ein Stück des Zeitgeistes Nietzsches, aber auch den viel später aufkommenden Gedanken des Machtmissbrauchs. Es erinnert an das „Opium fürs Volk“ von Karl Marx oder auch an die Schriften von Foucault zur „Mikrophysik der Macht“[22]. Souveräne Religion, so Nietzsche, hält den Menschen in seiner Entwicklung auf.

4. Hauptstück – Sprüche und Zwischenspiele (§63 – §185)

Das vierte Hauptstück lässt sich schwer unter einen inhaltlichen Begriff bringen. Wie der Titel schon vermuten lässt, enthält es eine Menge an sehr knappen Aphorismen zu einer verschiedenen Auswahl von Themen. Viele von ihnen lesen sich wie knappe Lebensweisheiten oder Ratschläge, andere wie (Selbst-)Erkenntnisse oder auch Bekenntnisse. Aus einer nicht zu knappen Menge lässt sich Nietzsches Idee der Position einer Frau ablesen, nämlich als „zweite Rolle“ (§145).

Da sich das Buch insgesamt mit dem einzelnen Menschen an sich beschäftigt ist dieses Kapitel auch keine Ausnahme. Nietzsche spricht von Wahrheit (§81) und ihrer Gewaltigkeit im Angesicht der Erkenntnis. Nach Nietzsche sind die meisten moralischen Urteile gewissermaßen Interpretation (§108). Sowieso ist vieles von dem, was wir bisher als wahr erachten eigentlich nur eine Interpretation. Dazu gehört Moral an sich (§95) das eigene Selbstbild (97), Romantik (§120) und unser Bild von anderen (138). Da vieles, wie ein Gespräch klingt, ist es nicht weiter verwunderlich, dass Nietzsche sich mittendrin als Geburtshelfer der Gedanken bezeichnet (136). <!-- /wp:paragraph -->  <!-- wp:paragraph --> Der Grundton seiner Ratschläge ist die Eigenverantwortung des Einzelnen. Man würde am besten für seine Tugenden bestraft (132), genauso wie die Situationen, die unser Leben stark verändern oft verlangen, dass wir zu etwas werden, dass wir nie dachten zu sein; „wo wir den Mut gewinnen, unser Böses als unser Bestes umzutaufen“ (116). Was natürlich auf keinen Fall fehlen darf, ist eines von Nietzsches berühmtesten Zitate in Paragraph 146: <!-- /wp:paragraph -->  <!-- wp:paragraph --> <em>"Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn,</em> <em>daß er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in</em> <em> den Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein."</em> <!-- /wp:paragraph -->  <!-- wp:paragraph --> Das Kapitel endet mich einer Reihe von Sprüchen, die das Verhältnis des Einzelnen zur Gruppe beleuchten. Ein einzelner Mensch sei intelligent, viele Menschen als Gruppe jedoch nicht (156). Seine Kritik gegen die Ausrichtung von Menschengruppen benutzt immer wieder das Bild einer Herde (§165) und eines Leithammels. Als Einstimmung für das nächste Kapitel drehen sich die letzten Aphorismen um die Handlungen von Menschen. Es geht um Utilitarismus (§174) um Konsequenz (§179) und die Gefährlichkeit von unüberlegten und zu gut gemeinten Handlungen (§184). Entgegen der vorherrschenden Meinung seiner Zeit pocht Nietzsche nicht auf Gruppen und ihre Schlagkraft, sondern auf die Verantwortung des Einzelnen. Dem Menschen an sich spricht er mehr Befähigung zu als jeder politischen Führung oder Ideologie.

5. Hauptstück – Zur Naturgeschichte der Moral (§186 – §203)

Obwohl der Titel des Kapitels „Zur Naturgeschichte der Moral“ lautet hat es wenig mit einem geschichtlichen Abriss gemeinsam. Vielmehr verzahnt Nietzsche von Anfang an wissenschaftliches Arbeiten und Moralvorstellungen und kritisiert dann beides. Der Kontrast von Moral und Natur finde sich im Handeln des Menschen und seinen Trieben und Impulsen (§187), Moral an und für sich nur ein Zwang gegen die Natur (§188). Nietzsche beschreibt vielfach das Handeln des einfachen Menschen als gewissermaßen programmiert. Er schließt diesen Punkt in seine Christentums-Kritik mit ein und bezeichnet den Sonntag als kulturelle Institution nur als den „Fastentag für den Arbeitstrieb“ (§189). Generell sei viel dessen, was Menschen als Moral wahrnehmen keine Folge von eigenen Entscheidungen und Werten, sondern vielmehr gelernt und abgeschaut. Nietzsche nutzt immer wieder das Wort „Herde“, wenn er über Gruppen von Menschen und ihr Verhalten spricht. Im 20. Und 21. Jahrhundert verwenden wir häufig „Schafe“, „Lämmer“ oder „Lemminge“; meinen aber oft das gleiche.

Diese Herde, wie Nietzsche sie nennt, handle häufig nur nach Obrigkeit und nach Vorgaben, die die eigene Vorstellung bestätigten (§192). Individualismus, wenn überhaupt, würde sich erst langsam bemerkbar machen. Beim einzelnen Menschen geschähe dies über seine Test-Vorstellungen, während er träume (§193). Eine Erkenntnis, die später auch Carl Jung im Roten Buch aufzeichnet.[23]

Unsere Vorstellungen von Moral seien so vorgeprägt aus dem, was die Kirche für wahr und richtig gehalten habe, dass wir fast keine Möglichkeit mehr haben unsere ursprünglichen Werte zu erkennen. Für Nietzsche liegt der Ursprung schon im Schisma zwischen Juden- und Christentum und den darauffolgenden Entwicklungen im Imperium Romanum (§195). Dies würde nun dazu führen, dass sich die Menschen in Europa für moralisch überlegen halten, egal ob in ihrer Lebensweise, ihren Regierungsformen oder ihren Wirtschaftsbeziehungen. In den Worten von Nietzsche, Europa habe einen „Hass auf die Tropenvölker“ (§197) zeichnet sich schon die Auswirkungen von Kolonialisierung und Globalisierung ab.

Gegen Ende des Kapitels macht er einen Schwenk zurück zum Leben des Einzelnen. In all seiner Geschäftigkeit sehne sich der Mensch doch im Grund nach Ruhe und Entspannung von seinen Pflichten (§200). Es gäbe nur eine kleine Minderheit von Menschen, die einen nicht enden wollenden Hunger nach größerem hätten.

Ganz zum Schluss erhalten wir als Leser einen Ausblick auf das nächste und übernächste Jahrhundert. Wenn man genau schaue, so sei „Furcht die Mutter der Moral“ (§201), was exzellent zum Christentum passen würde. Die Furcht vor Gott hätte schließlich den gleichen Effekt. Durch das kollektive Handeln in diesem Bewusstsein erliegt der Einzelne der Illusion, er wisse, was Gut und Böse sei (§202). Nietzsche bezeichnet die „Menschen der Zukunft“, als diejenigen, die einen wahren freien Willen haben. Diese Idee spielt locker mit den Gedanken, die er später im Konzept Übermenschen darstellt. Ein Individuum mit völlig freiem Willen, dass seine eigenen Werte erarbeiten und danach handeln kann.

6. Hauptstück – Wir Gelehrten (§204 – §213)

Das sechste Hauptstück ist eine Kritik an der arbeitenden Academia zur Zeit Nietzsches. Er sieht eine klare Rangverschiebung von Wissenschaft und Philosophie zugunsten ersterer (§204). Wenn wir Philosophie im ursprünglichen Sinne („Freunde der Wissenschaft“)[24] betrachten, dann fällt dies mit dem Aufkommen der Psychologie als Wissenschaft zusammen, womit die Philosophie ihren letzten bisherigen Baustein an die Naturwissenschaften abtritt. Leider sei das Lernen einer Wissenschaft oder Philosophischen Schule so kompliziert und vielschichtig geworden, dass auch der Lernende am Ende nicht das Gefühl von Überblick hat, im Gegenteil (§205).

Die Wissenschaft sei auch überfüllt von nicht-philosophischen Menschen, deren Moralvorstellungen nur ein Herdenmechanismus seien. Sie würden sich als „objektiv“ bezeichnen (§207), würden aber vielmehr Mitläufer sein. Etwas, dass wir heute politisch als „extreme Mitte“ bezeichnen würden.

In Paragraph 208 erlaubt sich Nietzsche Kritik am „russischen Nihiln“, sprich am Nihilismus an sich. Er kontrastiert diesen zunächst mit dem Pessimismus Schopenhauers und dann mit den Menschen des gewöhnlichen Volkes. Russland sei seit längerer Zeit eine „Bedrohung für Europa“, was sich zunächst in einem philosophischen Streit ausdrücken würde. (Mehr dazu im Abschnitt „Sozialismus“).

Für Nietzsche ist der zukünftige Philosoph ein Skeptiker, dafür erwartet er einen harten gesellschaftlichen Aushandlungsprozess zwischen verschiedenen Gesellschaftlichen Strömungen, darunter das Femininische und Hermaphroditische (§201), etwas, dass wir heute mit Feminismus und LBTQIA+ begrifflich einsortieren würden. Es sei die Aufgabe von Philosophen Werte zu finden und zu erschaffen (§211). Als gefährlich sieht er eine zu große Vermischung von Werten und idealistischen Strömungen. Er nennt es eine „Gleichheit der Rechte“ ebenso wie „Gleichheit der Unrechte“ und greift damit der Orwell‘schen Kommunismus-Kritik („Alle sind gleich, doch einige sind gleicher als andere“)[25] vor. Das Kapitel endet mit einer Art Appell: Philosophie sei etwas, das jedem Menschen innewohnen würde, jedoch würden sich nur wenige an die wirklich schwierigen Fragen heran trauen  (§213).

7. Hauptstück – Unsere Tugenden (§214 – §239)

Bisher sprach Nietzsche über Tugend, ohne den Begriff differenzierter zu beleuchten. Dies ändert sich nun. Die Tugenden des kommenden, zwanzigsten Jahrhunderts, würden von vielen Extremen geprägt sein, sagt er. „Wenn ihr wüsstet, wie bald es schon – anders kommt“ (§214). Die Diskussion, welche Tugend eigentlich die richtige sei, findet Nietzsche am ehesten in der Psychologie. Zwar wirft er dieser Wissenschaft die „Vivisektion am guten Menschen“ vor (§218) und gesteht ihr auch nicht das letzte Wort zu, doch er exkludiert den religiösen Dogmatismus. Leider sei ein viel größeren Problem der Tugend-Frage die Ungleichheit der Menschen. Das moralische Verurteilen von anderen sei beispielsweise eine „Lieblingsrache [der] Geistig-Beschränkten“ (§219), wohingegen das, was intelligente Menschen reizen würde durchschnittlichen Leuten oft egal wäre (§220).

Ein für Nietzsche wichtiger Punkt ist das Mit-Leid. Es sei zur Schau gestellt (§225) und öffentlich (§222), dadurch würde es wie ein Kostüm werden (§223) und ohne Verantwortung sein (§226).

Dadurch, dass über Moral und Tugend viel geredet würde, ohne dass daraus Handlungsabsichten entstehen würden, wäre die ganze Debatte hohl. (§227)

Wo Nietzsche die Gefahr sieht, ist in der potentiellen Boshaftigkeit des Menschen. Die „Grausamkeit [sei] vergeistigt“ (§229) worden und somit Moral rechtfertigbar. Beim Lesen musste ich an staatlich beglaubigte Grausamkeiten wie den Holocaust oder die Ideologische Säuberung des Stalinismus denken. Jeder Mensch hätte jedoch etwas Tiefsitzendes, Unbelehrbares in sich (§231), dass er nicht ablegen könnte, meint Nietzsche. Somit bestünde noch Hoffnung für den Menschen, an sich.

Der letzte Teil dieses Kapitels liest sich überraschend unzeitgemäß, da er Nietzsches Ansichten zur Rolle einer Frau darstellt. Ihre Rolle sei nicht in der Wissenschaft (§232). Emanzipation sei mit Vorsicht zu genießen (§233) und führe zu einem Verlust der Weiblichkeit bei Frauen (§239). Untypisch für Nietzsche, stützt er diese Argumente auf andere Schriftsteller (Dante und Goethe) um sich zu rechtfertigen (§236).

Seine abschließende These, dass es in die falsche Richtung führe Männer und Frauen zu sehr gleich zu machen (§238), erinnert jedoch schon fast an moderne Feminismus-Debatten.

8. Hauptstück – Völker und Vaterländer (§240 – §256)

Das Kapitel „Völker und Vaterländer“ liest sich am besten im Kontext seiner Zeit. Nietzsche mag einen guten Weitblick für die geopolitische und gesellschaftliche Lage gehabt haben, doch in diesen Texten redet er von seiner aktuellen Gegenwart. Politik sei in Europa viel zu sehr Kleinstaaterei und es würde nicht groß gedacht (§241). Er sieht eine, sich anbahnende demokratische Bewegung in Europa (§242) und nennt sie schon mit den später verwendeten Schlagworten „Zivilisation, Vermenschlichung, Fortschritt“.

Ein erheblicher Teil seiner Kritik zielt auf eine gewisse politische Träge der Deutschen ab, welche im ständigen „vorgestern und übermorgen“ leben würden (§244), aber eben niemals in der Gegenwart. Die Tugenden und Moralansichten der Völker seien eben noch zu unterschiedlich, sagt Nietzsche (§249). Mit einer gewissen Vorsicht schaut er auf die Deutschen und ihr „Nationales Nervenfieber“(§251), was augenblicklich meinen Vergleich mit dem Nationalsozialismus aufkommen ließ. Doch entgegen allen Differenzen sah Nietzsche in Europa eine Einigkeits-Bewegung und schreibt plakativ: „Europa will eins werden“ (§256). In seiner Zeit, der verteilten Monarchien noch absolute Zukunftsmusik, wird dieser Punkt wohl von vielen übergangen worden sein. Doch die heute existierende Europäische Union, inklusive aller gemeinsamer Politik bekräftigen Nietzsche in seiner Ahnung.

9. Hauptstück – Was ist vornehm? (§257 – §296)

Zum guten Schluss seines Buches beantwortet Nietzsche die Frage nach „Was ist vornehm?“. Im Kapitel selbst setzt er allerdings inhaltlich an die „Naturgeschichte der Moral“ an und verbindet damit sowohl seine Gesellschaftsansichten zu Moral und Tugend zum „vornehmen Handeln“. Zuallererst beschreibt er den Herrschaftstypus des Aristokraten, der nur funktioniere, wenn er das einfache Volk als „Unterbau“ sehen würde (§258). Zwar überholt, doch im Kern wahr, meint Nietzsche. Hierarchien seien wichtig für Menschen, sonst würde ein System zusammenbrechen (§259). Gegen künstliche Gleichmacherei spricht er sich immer wieder, so auch hier, aus.

Durch das demokratische Handeln einer Mehrheitsgesellschaft bliebe eine Art „Moral der Mittelmäßigkeit“ übrig, welche zwar keine Schlagkraft besäße, aber zumindest auch nicht gefährlich sei (§262). Diese Mehrheitsgesellschaft der zukünftigen Europäer müsse aufpassen, daraus keine „Selbstverkleinerung“ (§267) zu machen.

Dann wechselt Nietzsche die Perspektive und wendet sich dem Verhalten der Menschen untereinander zu. Sprache sei fehlbar (§268) und von vornherein konstruiert. Menschen seien immer unterschiedlich, egal wie gleich ihre Ansichten sein mögen (§271) und man solle nicht von anderen verlangen, was man auch nicht von sich selbst verlangt ($272).

Die langsamen Bewegungen einer Gesellschaft der Zukunft sieht Nietzsche vielmehr im Handeln des Einzelnen, doch verstehen könne man sie immer erst rückblickend (§277). Jede Philosophie würde einen Teil ihrer Wahrheit unweigerlich verbergen (§289), denn mehr als Kritiker fürchten sich Denker nur davor „verstanden zu werden“ (§290). Es ginge bei vielen dieser Vornehm-Moral-Fragen auch gar nicht um Moral an sich, sondern um Handlungen mit reinem Gewissen (§291). Mitleid unter Menschen wäre aber nach wie vor, die größte Herausforderung, da es immer überzogener und fehlgeleiteter sein würde (§293). Mit Blick auf die Welt scherzt Nietzsche, dass auch die Götter philosophieren müssten, sonst könnten sie die Menschen nicht verstehen. (§294).

Das Kapitel endet mit einem Eingeständnis des Schriftstellers. Seine Gedanken seinen nun auf Papier gefangen und „bereit Wahrheiten zu werden“ (§296) zumindest einige von ihnen. Die Richtigkeit und Tragwürde würde allein die Zeit zeigen.

Aus den hohen Bergen – Nachgesang

Der Nachgesang ist eine Gedichts-Passage am Ende des Werkes. Er beschreibt die Emotionen eines alternden Philosophen im Wechselspiel mit einer sich verändernden Welt. Immer wieder handelt es vom Wehklagen und der Schwere der Erkenntnis. Erst am Ende taucht eine bekannte Figur des Nietzsche-Universums aus. „Freund Zarathustra kam, der Gast der Gäste“ [26]. Damit kehrt für das lyrische Ich Ruhe ein, der Leser ist entlassen und das Buch endet.

„Philosophie der Zukunft

Wenn wir uns „Jenseits von Gut und Böse“ als Werk im Kontext seiner Zeit anschauen, dann fällt eine gewisse Ungewöhnlichkeit auf. Für jemanden, der diese Schrift im ausgehenden 19. Jahrhundert anfertigte wirkt alles viel zu unzeitgemäß. Ich, als Leser des 21. Jahrhunderts, kann eine klare Vorausdeutung in Richtung der letzten Jahrzehnte sehen. Nietzsche spricht teilweise von sich verändernden Herrschaftsformen, von den Konflikten ganzer Völker und Staatengruppen (vornehmlich Europa und Russland) und auch vom Sozialismus. All das passiert, während er in Sils-Maria in der Schweiz sitzt und die Welt aus dem Tuscalanum betrachtet, wie Cicero sagen würde.

Das Buch trägt den Untertitel „Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“ und ich will nicht von der Hand weisen, dass ich zuerst geschmunzelt habe. „Jaja, mach du mal“, habe ich gedacht. „Der irre gewordene Schweiz-Preuße mit dem Nihilismus“. Nach der Lektüre jedoch kann ich ein klein wenig tiefer in die Gedanken eben jenes staatenlosen Philosophen blicken. Ich habe das Glück im beginnenden 21. Jahrhundert zu leben und mir einen Teil der Historie schon anschauen zu können. Da wären all die Horrorerlebnisse des 20.Jahrhunderts. Der Schrecken des Stalinismus, des Dritten Reichs in Deutschland, sämtliche Formen des Kommunismus überall in der Welt. Wenn man „Jenseits von Gut und Böse“ durch die Linse der historischen Ereignisse liest, dann findet man unglaubliches.

Seit der Zeit in der Nietzsche gelebt und gewirkt hat, ist unfassbar viel in der Welt passiert. Von seiner anfänglichen Kritik des Christentums, über den Wandel der Moral und des Gelehrten-Berufs, bis hin zur geopolitischen Lage. Ich erinnere daran, dass Nietzsche zur deutschen Kaiserzeit gelebt hat, und zwar in ihrer Blüte. Zur damaligen Zeit dachten wahrscheinlich die Wenigsten (Marx und Engels ausgenommen) an den Verfall des Systems. Ein bisschen wirkt Nietzsche damit wie der prophetische Hari Seldon in Isaac Asimovs Foundation[27], welcher das Ende des Galaktischen Empires fast 300 Jahre vorher voraussagt und auch noch richtig liegt. In der „Fröhlichen Wissenschaft“ gesteht Nietzsche durch die Stimme eines Protagonisten selbst, dass er mit seinen Erkenntnissen „zu früh sei“ und die Zeit noch nicht reif. Was nach Nietzsche kam, war eines der blutigsten Gesellschaftsexperimente in der jüngeren Politikgeschichte. Seit er sich mit Gott angelegt hat und dessen Tod proklamierte, kam alles andere auch mehr oder weniger so, wie er es prophezeite.

Im Folgenden habe ich einige dieser Punkte herausgegriffen und einzeln beschrieben. Das hilft, sie geschichtlich einzuordnen und greifbar zu machen.

Kritik am Christentum

Nietzsche kritisiert nicht direkt das Christentum an sich, lediglich den Umgang der Menschen damit. Sein harscher Ansatz gegen die Kirche richtet sich in Richtung Moral und Gehorsam, ebenso es mit dem Menschen als kopflose Herde spielt (§191). Als er in der „Fröhlichen Wissenschaft“ sagt, dass Gott tot sei und wir ihn kollektiv getötet hätten, da meinte er nicht nur die christliche Vaterfigur des neuen Testaments, oder die jüdische Richter-Figur des JAHWE, sondern eben die Moral an sich. Im Christentum war Gott die Symbolik des unerreichbar-perfekten. Sobald dies nicht mehr gegeben sei würden sich die Menschen automatisch einen brauchbaren Ersatz suchen, gerade diejenigen Menschen, denen es lieber wäre von irgendwas beherrscht zu sein, als mental unabhängig zu leben. Für Nietzsche widerlegt der Zeitgeist seines Lebens die Funktionen von Gott als höchste moralische Instanz. Er ist weder Vater, noch Richter, noch Belohner. Wörtlich sagt Nietzsche über den Gott seiner Zeit: „und wenn er hörte, wüßte er trotzdem nicht zu helfen“ (§53).

Mit einer gewissen Sorge betrachtet Nietzsche den symbolischen Tod Gottes in „Jenseits von Gut und Böse“, denn aus ihm folgt in logischer Konsequenz eine ganze Reihe gesellschaftlicher Entwicklungen, die uns heute noch beeinflussen.

Aus dem Menschen, der beherrscht werden will, ist auch einer geworden, der sich einen Ersatz für den toten Gott gesucht hat. Diesen finden Menschen individuell in unterschiedlichen Dingen, das meiste davon jedoch in einer politischen Ideologie. Am liebsten eine totalitäre Ideologie im politwissenschaftlichen und philosophischen Sinne – also eher eine kategorische (um mit Kant zu sprechen)[28]. Aus diesem Willen einen Ersatz zu finden, entstanden Systeme wie die Herrschaftsideologie der Nationalsozialisten, der Gemeinsinn der DDR und auch die Vorstellungen vom „guten Menschen“ in China[29] und Kambodscha[30].

Ob Nietzsche dies alles vorausgesehen hat, bleibt fraglich und lässt sich für Einzelfälle natürlich nicht nachprüfen. Die Richtung, die er mit dem attestierten Verfall des Christentums eingeschlagen hat, genügt jedoch um das halbe 20. Jahrhundert zumindest in Grundzügen zu prognostizieren.

Sozialismus – frühes 20. Jahrhundert

Nietzsche beschreibt nicht wörtlich den Sozialismus, was daran liegt, dass er die gleiche Form der Herrschaft anders bezeichnete als wir heute. Indem er seine produktive Schaffensperiode Mitte des 19. Jahrhunderts verlebte, kann man Nietzsche locker zu den Zeitgenossen von Marx und Engels zählen. Gerade in Deutschland wurden also schon die Stimmen laut und das Gespenst aus dem Manifest der kommunistischen Partei begann sein Unwesen zu treiben. In seinen Aphorismen verteufelt Nietzsche nicht direkt die Ideen von Marx und Engels; er ist fern einer persönlichen Kritik der beiden. Was er jedoch anprangert, ist eine überzogene Gleichmacherei von Moralvorstellungen und Lebensentwürfen. Seine zynische Bemerkung, dass eine „Gleichheit der Rechte“ auch eine „Gleichheit der Unrechte“ bedeuten würde, zielt darauf ab, was ebenso auch passieren könnte.

Die grausamen Vorgänge in Russland nach der Oktoberrevolution 1917 beliefen sich auf genau diese Gleichheit der Unrechte. Im Stalinismus unter Lenin und Stalin starben Hunderttausende Menschen in Gulags unter dem Vorwand einer ideologischen Säuberung. Nietzsche erzählt uns im Kapitel zur „Naturgeschichte der Moral“ von der Gefährlichkeit von zu starren politischen Linien und von der Vergeistigung der Grausamkeit. Jede bisherige Staatliche Form eines Kommunismus-Derivats hat sich unweigerlich in eine gewaltvolle Extreme entwickelt. Ob Nietzsche dies genauso vorausgesehen hat, oder ob er einfach die Zeichen der Zeit in Worte gefasst hat, ist natürlich nur spekulativ.

Russland und „Civil War in the West”

Immer wieder taucht Russland als Faktor auf, wenn Nietzsche über die geopolitische und gesellschaftliche Lage Europas redet. Bewusst bezeichnet er Russland als „Bedrohung“ und konstatiert, dass sich unter dem Konflikt mit Russland der Rest Europas die Frage stellen müsse, wie einig man sei. Sein Ausspruch „Europa will eins werden“ findet sich im gleichen Abschnitt.

Aus unserer heutigen Zeit und gerade mit dem Blick auf den Konflikt in der Ukraine, lässt sich erschreckend feststellen, wie viel Konfliktpotential zwischen Russland und den anderen Staaten Europas bisher geherrscht hat. Nach zwei Weltkriegen und dem kalten Krieg scheint es jetzt, 23 Jahre nach Berliner Mauerfall, schon wieder um einen Konflikt zwischen Russland und „dem Westen“ zu gehen.

Der kanadische Autor Dr. Jordan Peterson hat in seinem Videoessay „Civil War in the West“[31] einige dieser Gedanken zusammengetragen. Russland würde einen ideologischen Krieg gegen westliches Gedankengut führen. Dieses sei allerdings innerhalb der Gesellschaft in den Staaten des Westens (der NATO) schon so polarisiert, dass man nicht von einer einheitlichen Debatte ausgehen könnte. Fragen zwischen links- und rechtpolitscher Strömung, zwischen Feminismus, Intelligentsia, Umweltschutz und auch älterer und jüngerer Geschichte würden dort stellvertretend in der Ukraine ausgefochten.

Sein Ansatz: Sich an die eigene Nase fassen und besagte Probleme in der eigenen Gesellschaft angehen, bevor der Waffenkonflikt weiter eskaliert. Peterson nimmt Bezug auf Nietzsche und dessen Vorausdeutungen einer Bedrohung Russlands und erklärt damit seine Argumentation.

Die Zukunft in der wir nun leben

Leben wir nun in der Zukunft, für die Nietzsche glaubte ein „Vorspiel“ zu schreiben? So wie er damals schlussfolgerte, dass sich viele Dinge erst rückblickend verstehen lassen würden, so fällt es mir als Mensch des 21. Jahrhunderts deutlich leichter, das zu beantworten, als einem seiner Zeitgenossen. Meine Antwort: Ja, wir leben in Nietzsches Zukunft. Sowohl die bedrohlichen, militärischen Aspekte, als auch die Veränderung der Gesellschaft lassen sich aus den Texten Nietzsches ablesen. Seit seinen Lebzeiten ist diese Welt durch das Chaos von zwei Weltkriegen und einer Vielzahl pervers totalitärer Regimes gegangen. Unzählige Menschen sind an den Folgen der Findungsphase einer Ersatz-Moral und Ersatz-Religion hingerichtet worden. Die angedeuteten Nationalbestrebungen und der inhärente Zwang die Demokratie überall hinzutragen sind allesamt wahr geworden.

Was bleibt ist der noch immer brodelnde Konflikt mit Russland und die Gefahr, dass sich der Mensch zu sehr darin verstrickt die Erde zu beherrschen. Im Zwischenspiel „Sprüche“ findet sich der Ausspruch, dass der Mensch grundsätzlich über sich selbst herfallen würde. Meine Hoffnung ist natürlich, dass der weitere Verlauf des 21. Jahrhunderts dem des zwanzigsten Jahrhunderts keinesfalls ähneln wird, doch wir sind auf der Zeitleiste Nietzsches noch nicht beim moralisch-eigenständigen sehr freien Geist angekommen. Die Zeit wird zeigen, was dazu noch nötig ist.

„Der Abgrund“

„Wenn du lange in den Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“[32]

Bezugnehmend auf Nietzsches berühmtes Zitat zum Abgrund hatte ein Freund von mir mal einen Trinkspruch: „Auf unsere Abgründe – ohne die wir nichts wären“. Aus der Lektüre des Buches weiß ich, dass Nietzsche sich selbst nicht als Nihilist gesehen hat; vielmehr als einen Pessimisten im Sinne Schopenhauers. Selbst dieser Pessimismus war für ihn ein Mittel zum Zweck. Er selbst beschreibt das Ziel davon als das Auffinden von Lebensfreude und „Weltbejahung“ (§56) und nicht als Depression. Vielleicht ist das auch der Hintergrund des Trinkspruchs, denn es geht dem Menschen ja nicht um langsames Erdulden seiner Umstände, sondern um Verbesserung ebendieser. Nichts davon ist von vornherein leicht oder auch angenehm. Carl Jung beschrieb es teilweise mit der Idee, dass das, was man eigentlich am meisten brauchen/suchen würde dort zu finden sei, wo man am wenigsten bereit sei, nachzuschauen.

SCHLUSS

Konklusion

Die Lektüre von „Jenseits von Gut und Böse“ hat für mich den erhofften Effekt erzielt. Der Text hält vielmehr das Versprechen seines Untertitels, als seines Titels, doch er entbehrt nicht der politischen Relevanz. Da ich mit diesem Buch auch einen Einstieg in das Werk von Friedrich Nietzsche suchte, fand ich einen brauchbaren Trittstein, um mich weiter vorzuwagen. Für einige Referenzen war eine Allgemeinbildung mit Blick auf den damaligen Zeitgeist nötig, doch daran soll es nicht scheitern.

Die angelegte Linse für die Analyse war die heutige Zukunft. Konnte es möglich sein, dass Nietzsche unsere heutige Zeit mit den politischen und gesellschaftlichen Zeichen seiner Zeit hat inferieren können. Meiner Meinung nach ist ihm dies gelungen.

Wie schon in der Einleitung erwähnt, hat die Erstlektüre nicht für eine umfassende Analyse gereicht, sondern vielmehr den Überblick über Nietzsches Gedanken zu „Gut“ und „Böse“ verschafft. Es sei gesagt, dass das Werk nicht depressiv macht, lediglich einsichtiger.

Literaturverzeichnis

Primärliteratur

  • [JGB] – NIETZSCHE, Friedrich, Jenseits von Gut und Böse und zur Genealogie der Moral. 2006, 2020, München, Anaconda Verlag, ISBN: 978-3-86647-046-0

Sekundärliteratur

  • [WIKI-NIETZSCHE] Wikipedia Friedrich Nietzsche“, siehe: de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Nietzsche, (zuletzt aufgerufen 24.08.22 10:35)
  • [WIKI-JGB] – Wikipedia Jenseits von Gut und Böse (Nietzsche)“, siehe: de.wikipedia.org/wiki/Jenseits_von_Gut_und_Böse_(Nietzsche), (zuletzt aufgerufen 25.08.22 20:15
  • [FRÖH-WISS] NIETZSCHE, Friedrich, 2015. Die Fröhliche Wissenschaft/Wir Furchtlosen (Neue Ausgabe 1887). 1. Felix Meiner Verlag. ISBN 9783787324323
  • [LIBER-NOVUS] JUNG, C. G., Sonu SHAMDASANI und Christian HERMES, 2010. Das rote Buch – Liber novus. 2. Aufl. Düsseldorf: Patmos. ISBN 9783491421325
  • [FOUND] – Asimov, Isaac, Foundation. 1951, Doubleday, ISBN: 978-0553293357

[1] NIETZSCHE, Friedrich, 2018. Also sprach Zarathustra. [N.p.]: WS. ISBN 978-2-291-03800-9
[2] NIETZSCHE Friedrich, 2021. Menschliches, Allzumenschliches : Ein Buch für Freie Geister. Dinslaken: Andhof. ISBN 978-3-7364-2848-5
[3] NIETZSCHE, Friedrich, 1908. Ecce homo. [online]. [Leipzig, Insel-Verlag. Verfügbar unter: hdl.handle.net/2027/gri.ark:/13960/t0002sf78
[4] Webpräsenz von Dr. Jordan Peterson siehe: www.jordanbpeterson.com
[5] YouTube: „Nietzsche’s Beyond Good and Evil is not a book“ Siehe: youtu.be/TAk3E9qskiY (zuletzt aufgerufen: 24.08.22) – Jordan Peterson hat viel über Nietzsche und seine Philosophie gesprochen. Das meiste findet sich in Mitschnitten auf YouTube. Als Beispiel dient vielleicht noch „2017 Persönlichkeit 11: Existentialismus: Nietzsche Dostojewski & Kierkegaard“ Siehe: youtu.be/4qZ3EsrKPsc (zuletzt aufgerufen: 28.08.22 10:15)
[6] Youtube:“Dr. Jordan Peterson – Nietszche and Christianity“ siehe youtu.be/KgBuOQL1VYY
    (zuletzt aufgerufen 29.08.22 8:25)
[7] Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831)
[8] Arthur Schopenhauer (1788-1860)
[9] Eine genetische Veranlagung, die vermehrt das Risiko für Schlaganfälle im mittleren Alter erhöht.
[10] [FRÖH-WISS] §125
[11] [WIKI-Nietzsche] Abschnitt zu: „‘Gott ist tot‘ – Der europäische Nihilismus
[12] [WIKI-JGB] Abschnitt „Europa und die Juden“
[13] [JGB]
[14] [WIKI-JGB] siehe Einleitung des Artikels
[15] [JGB] ab §1
[16] [JGB] S. 9
[17] [JGB] S. 11
[18] Zitat wahrscheinlich zugeschrieben, genaue Quelle unbekannt.
[19] Zitat wahrscheinlich zugeschrieben, genaue Quelle ebenfalls unbekannt. Heutzutage inflationär benutzt.
[20] [FRÖH-WISS] §125
[21] [LIBER-NOVUS] S. 242
[22] FOUCAULT, Michel, 1976. Mikrophysik der Macht: über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin. In:. Berlin: Merve-Verl. ISBN 3920986792
[23] Vgl. [LIBER-NOVUS] S.231 f.
[24] gr. „Phylos“ = Freund // gr. „Sophos“ = Wissenschaft
[25] Das Konzept beschreibt George Orwell in seinem Buch „Animal Farm“
[26] [JGB] S. 225
[27] [FOUND] S. 31
[28] Keine Referenz zum „kategorischen Imperativ“, eher zu kategorisch in seiner Wortbedeutung als „ausschließend“
[29] Siehe Wikipedia „Großer Sprung nach vorn“ de.wikipedia.org/wiki/Großer_Sprung_nach_vorn (zuletzt aufgerufen 31.08.22 16:35)
[30] Siehe Wikipedia „Rote Khmer“ de.wikipedia.org/wiki/Rote_Khmer (zuletzt aufgerufen 31.08.22 16:35)
[31] „Article: Russia Vs. Ukraine Or Civil War In The West?” Siehe: youtu.be/JxdHm2dmvKE (zuletzt aufgerufen 31.08.22 15:15)
[32] [JGB] §146

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