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Maximilian R. Schlechtinger

C.G. Jung und ‚Wotan‘

VOM ARCHETYP DES WOTAN

Einführung ins Thema

Die Figur des Wotans begleitet die Menschen Mitteleuropas seit mehr als zweitausend Jahren. In den alten Göttersagen der Edda nimmt Wotan (dort Odin genannt) die Rolle des Allvaters der Götter ein. Seine Charaktereigenschaften, die von aufbrausend und wütend, bis weise und einsichtig reichen, machen ihn zum Archetyp des mächtigen Vaters.

Mit der Christianisierung des Abendlandes, die etwa 1000 nach Christus abgeschlossen ist, verschwindet der rituelle Glaube an die alten Götter. Es bleibt jedoch ihr Nachhall in anderen Bereichen der Gesellschaft. Dieser Essay möchte sich den Betrachtungen des Schweizer Psychoanalytikers Carl Gustav Jung der (archetypischen) Figur des Wotans nähern.  Es soll die Frage expliziert werden, inwieweit sich eine archetypische Figur eignet, um eine bestimmte gesellschaftliche Strömung einzufangen.

Fragestellung

Jung beschreibt in seinem Essay „Wotan“ aus „Aufsätze zur Zeitgeschichte“, die gesellschaftliche Strömung in Deutschland, Italien und Spanien zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Er vergleicht diese immer wieder mit den Charaktereigenschaften des Wotans aus der Völuspá[1]. Der ursprüngliche Aufsatz wurde 1936 publiziert, wohingegen die gegenwärtige historische Distanz erlaubt, den Wahrheitsgehalt näher zu prüfen. Es bleibt die Frage, ob die archetypische Figur des Wotans eine passende Beschreibung und Vorausdeutung der Ereignisse des Dritten Reichs, des Zweiten Weltkrieges und der ‚Götterdämmerung‘ des Nationalsozialismus darstellen kann.

Dazu werden wir klären, was Jung unter Archetyp versteht, wie er Wotan charakterisiert und schlussendlich die Eingangsfrage beantworten.

VOR UND NACH DER KATASTROPHE …

Textgrundlagen

Die Textgrundlage dieses Essays bilden zwei Aufsätze von Jung, nämlich „Wotan“ (1936)[2] und „Nach der Katastrophe“ (1945).[3] Im zweiten Aufsatz nimmt Jung selbst Bezug auf seine früheren Betrachtungen des Wotans, somit lassen sich seine Beobachtungen des deutschen Volkes und des beschreibenden Archetypus hier gut rahmen.

Carl Gustav Jung

Carl Gustav Jung lebte von 1875 bis 1961 und wird zusammen mit Sigmund Freud als der Gründungsvater der Psychoanalyse bzw. modernen Psychologie bezeichnet. Er studierte Medizin an der Universität Basel und wurde später Oberarzt der psychiatrischen Klink an der Universität Zürich, außerordentlicher Professor der EHT Zürich, sowie praktizierender Psychoanalytiker. Von 1907 bis 1913 arbeitete er eng mit Sigmund Freud zusammen. 1933 wurde er Vorsitzender der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie (AÄGP) und kam so in Berührung mit der politischen Entwicklung in Deutschland. Teilweise wurden seine Aussagen und Texte von der deutschen Reichsregierung de-kontextualisiert, instrumentalisiert und später, nach Jungs Dementierung dieser, verboten. Er selbst war politisch stets liberal. Zwischenzeitlich veröffentlichte Jung Aufsätze in der Neuen Schweizer Rundschau, wovon zwei Publikation Gegenstand dieses Essays sind. Er starb am 06. Juni 1961 in Küsnacht in der Schweiz.[4]

Der Begriff ‘Archetyp’

Der intellektuelle Nachlass Carl Jungs ist facettenreich und ergiebig. Der Begriff des Archetyps jedoch zieht sich durch viele seiner Betrachtungen, da er einen brauchbaren Ansatz bot, um gewisse Verhaltensweisen zu kategorisieren, zu gliedern und zu inferieren. Um Jungs komplette Betrachtung der Archetypen kohärent nachzuvollziehen, reicht ein einzelner Essay nicht aus. Deshalb soll hier nur in aller Kürze angerissen werden, wie sich ein Archetyp zeigt und welche nützlichen Eigenschaften er hat.

Um den Begriff des Archetypus verorten zu können, müssen wir uns Jungs Beschreibung des ‚kollektiven Unbewussten‘ ansehen. Der alltägliche Sprachgebrauch kennt das Unbewusste in der Variante von ‚Unterbewusstsein‘ und somit als eine Art von Denken, abseits der absichtlichen Kontrolle. Carl Jung setzte sich zeitlebens mit vielen Phänomenen auseinander, die scheinbar unfreiwillig und selbständig im Menschen existieren. Das persönliche Unbewusste sei subjektiv und individuell, so Jung. Das kollektive Unbewusste jedoch überpersönlich und allegorisch.[5] Jenes ist eine der Erklärungen für die Handlungen und Motive ganzer Menschenmassen, beispielsweise die Bewohner eines Staates, die Angehörigen eines Kulturkreises oder einer Glaubensrichtung.[6]

Archetypen sind allegorische Modelle zum Verständnis des Verhaltens eines einzelnen Menschen, oder einer Gruppe von Menschen. Diese gelten als universell, angeboren und überpersönlich. Von Jung identifizierte Beispiele sind das Selbst, der Schatten, die Mutter/der Vater und ähnliche. Dabei ist es wichtig zu beschreiben, dass man immer nach einem Archetypus handelt, oder auf die Allegorie eines Archetypus hinarbeitet.[7]

Wir nutzen Archetypen, um das Verhalten realer und fiktiver Personen zu erklären. Das Modell der Heldenreise aus der Narratologie folgt ebenfalls einem Archetypen, nämlich dem des Helden.[8] Jung beschäftigte sich nicht nur mit sozialen Archetypen (Mutter, Vater, Selbst), sondern auch mit mystisch-spirituellen. Für ihn waren die Charaktereigenschaften der Gottheiten polytheistischer Glaubensrichtungen ebenfalls Archetypen. Er baute jedoch niemals eine vollständige Liste von Archetypen auf, sondern klassifizierte seine Funde nur nach einer Hierarchie.[9] Es ist somit nicht verwunderlich, dass wir in seinem Aufsatz „Wotan“ auf die Erklärung des nordischen Gotts als Archetypus und damit als prototypisches Handlungsmuster lesen.

Die Idee der Erklärung von Verhalten aus dem kollektiven Unbewussten unter Zuhilfenahme von archetypischen Bildern erlaubt es, Handlungen und Motivationen zu inferieren. So wie die Charaktereigenschaften eines einzelnen Menschen oft Aufschluss auf seine Handlungsweisen geben, so geben die Eigenschaften eines Archetyps (aus dem kollektiven Unbewussten) gute Prognosen für die Handlungsweisen einer größeren Gruppe von Menschen.[10]

Über den ‚Wotan‘ – Aufsatz

Jung publizierte seinen Aufsatz „Wotan“ ursprünglich in der Neuen Schweizer Rundschau im Jahr 1936. Darin griff er die gesellschaftliche Strömung in Deutschland auf und versuchte sich dem Verhalten der deutschen Regierung akademisch und mit den Werkzeugen der Psychoanalyse zu nähern. Natürlich wusste er damals nichts vom bevorstehenden zweiten Weltkrieg.

Zunächst ordnet Carl Jung seine Betrachtungen sowohl in sein eigenes akademisches Wissen als auch in die Intelligenzija seiner Zeit ein. Mit den Ideen, eine gesellschaftliche Strömung in Deutschland zu betrachten und darüber eventuell zu inferieren, was daraus geschehen mag; das hätten auch schon Nietzsche, Schopenhauer, und andere gemacht.[11] Gleichwohl betont er die sich anbietende Erklärung der Motive des deutschen Volkes mit einem mystischen Begriff und nennt hier den archetypischen Wotan.

Jung spricht eine ganze Reihe von Veränderungen in Deutschland zu Beginn der 1930er Jahre an, konzentriert sich allerdings auf die Verdrängung des Christentums, die er mit Sorge betrachtet. Geduldig erklärt er: „Ich weiß nicht ob [ihnen] Wotans Urverwandtschaft mit der Christus- und Dionysosfigur bewußt ist; wahrscheinlich ist es nicht.[12] Nach einem kurzen Hinweis, dass die Figuren des Wotans und des Christus nicht identisch sind, jedoch ähnliche Eigenschaften besitzen beschreibt Jung die Charakteristika des Wotans.

Der archetypische Wotan ist verhältnismäßig deckungsgleich mit der Figur des Odins aus der Völuspá.[13] Jung schreibt: „Er ist ein Sturm- und Brausegott, ein Entfeßler der Leidenschaften und der Kampfbegier, und zudem ein übermächtiger Zauberer und Illusionskünstler, der in alle Geheimnisse okkulter Natur verwoben ist.[14] Damit steht Wotan im direkten Bezug zur griechischen Figur des Dionysos, den vor allem „antikische[n] Rausch und Überschwang[15] auszeichnen.

In einem Exkurs-Teil nimmt Jung Bezug zu Nietzsche und den Worten, die Nietzsche später so bekannt machen: „Gott ist todt! […] Und wir haben ihn getödtet! [16] Jung erwähnt allerdings auch „Zarathustra“, wohl um später den Bogen zum Abklingen des christlichen Glaubens zu schlagen. Jung nimmt darauf Bezug und merkt an, dass im weiteren Verlauf von Nietzsches Werk der Prophet Zarathustra im Traum von einem unbekannten Gott heimgesucht wird. Dieser kommt in einem Sturmwind und spricht in Bildern von Vergänglichkeit und der Veränderung der Welt. Dem überraschten Zarathustra wirft er beispielsweise einen Sarg zu, der bei Berührung in tausende Teile zersplittert.[17]

Jung deutet diesen Traum der Figur Zarathustra (anders als der Jünger des Propheten in Nietzsches Originalwerk), als eine Begegnung mit dem Sturmgott Wotan. Erst später, so merkt Jung an, beschreibt Nietzsche diese Veränderung in der Geschichte und in seiner Beobachtung der Welt mit dem Bild des Sturmgottes. Nietzsche wird häufig als mahnender Vorausdenker genannt.[18] Etwas augenzwinkernd fragt Jung am Ende jenes Abschnittes: „War es wirklich nur der Altphilologe in Nietzsche und nicht am Ende auch die fatale Begegnung mit Wagner, dass der Gott Dionysos hieß und nicht Wotan?[19]

Jung bezieht sich direkt danach auf Bruno Goetz und das Buch „Reich ohne Raum“.[20] Er sagt, er habe sich „damals das Büchlein als deutsche Wetterprognose angemerkt und nicht mehr aus den Augen gelassen“.[21] Es folgt ein knapper Absatz, der in gewohnt Jung’scher Informationsdichte die Verdrängung des Christentums aus dem deutschen Einflussgebiet beschreibt. Den Nationalsozialisten ging es bei der Bildung und Distribution ihrer Ideologien auch darum, sich nur vor sich selbst und nicht vor der Kirche rechtfertigen zu müssen. Das ein solches Machtvakuum, und sei es auch noch so spirituell, nicht lange ungefüllt bleibt, beschreibt Jung wie folgt:

Es ahnt den Gegensatz zwischen dem Reich der Ideen und dem des Lebens, dem zwiespältigen Gott des Sturmes und der geheimen Ergründung, welcher verschwand, als seine Eichen fielen und wiederkommt, wenn der Christengott sich als zu schwach erweist, um die Christenheit aus brudermörderischem Gemetzel zu erretten. Als der heilige Vater zu Rom, aller Macht bar, nur noch vor Gott klagen konnte ob des grex segregatus, da lachte der einäugige alte Jäger am germanischen Waldrand und sattelte Sleipnir.[22]

Die verwendeten Bilder (einäugiger Jäger, das Pferd Sleipnir, ‚Gott des Sturms‘) sind bewusst aus der nordischen Sagenwelt entlehnt. Lediglich Christus und der Papst werden explizit genannt, wohl auch um nicht zu viele Bilder zu verwenden. Mit grex segregatus (lat.: abgetrennte Herde/Rudel) wird sicherlich das Volk der Deutschen gemeint sein, auf den die christliche Kirche nun keinen Einfluss mehr hat.

In Anlehnung an die Untersuchung des kollektiven Unbewussten verwendet Jung das Bild des Archetypen Wotan, um das Handeln des deutschen Volkes (bzw. deutschen Reichsregierung) zu beschreiben. In der Charaktereigenschaft der Berauschtheit des Wotans liegt auch eine Form von ‚Ergriffenheit’, so Jung. Gleichzeitig mahnt er:

Das ist aber gerade das Eindrucksvolle am deutschen Phänomen, das einer [Hitler], der so offenkundig ergriffen ist, das ganze Volk dermaßen ergreift, daß sich alles in Bewegung setzt, ins Rollen gerät und unvermeidlicherweise auch in gefährliches Rutschen. [23]

Jung sieht mit viel Sorge nach Deutschland. Gerade die intellektuelle Entwicklung bereitet ihm Sorgen und er mahnt: „Deutschland ist ein geistiges Katastrophenland, wo gewisse Naturtatsachen immer nur einen Scheinfrieden mit der Weltherrscherin Vernunft eingehen.[24] Etwas zynisch fügt er hinzu, auch das tausendjährige Reich sei befristet; ohne natürlich um den Zweiten Weltkrieg und die Kapitulation Deutschlands zu wissen. In akribischer, akademischer Manier beschreibt er seinen Wotan Archetypen als furor teutonicus (lat.: Deutsche/r Wahnsinn/Leidenschaft) und damit als „bloße Psychologisierung“.[25] Jung wird sich bewusst sein, dass ein Archetyp nur eine Facette des Erklärungs- und Theoriegebäudes ist, die das Handeln der deutschen Reichsregierung beschreibt. Allerdings merkt er auch an, dass die Haltung anderer Staaten, speziell der Schweiz, überraschend passiv sei und sagt in Anlehnung an das Wotan-Beispiel: „In Deutschland ist das Unwetter ausgebrochen, während wir noch an das Wetter glauben.[26]

Als Archetypus sei Wotan ein autonomer, seelischer Faktor und würde kollektiv Wirken (kollektives Unbewusstes). Dies mache ihn unberechenbar und wandelbar.[27] In seiner Eingangsbeschreibung des Wotans als „Rausch- und Brausegott“ hatte er auch erklärt, dass dieser sich über 1000 Jahre ruhig verhalten habe.[28] Damit seien Archetypen wie Flussbetten, die zwar austrocken könne, jedoch in der Lage sind, den Fluss sofort wieder aufzunehmen, manchmal entgegen allen Hindernissen.[29] Im Sinne des kollektiven Unbewussten konstatiert Jung:

Wo nicht der einzelne, sondern die Masse sich bewegt, da hört menschliche Regulierung auf, und die Archetypen fangen an zu wirken, wie es auch im Leben des Individuums geschieht, wenn es
sich Situationen gegenüber sieht, welche mit den ihm bekannten Kategorien nicht mehr zu bewältigen sind.[30]

Doch er mahnt auch und meint, dass sich Führungsfiguren (er impliziert damit Hitler) wie Archetypen verhalten könnten, diese jedoch wandelbar sind.[31]

Eine ähnliche Sorge hat Jung aber auch in Bezug auf Deutschland und das Christentum. Kurz reißt er die Affinität der Deutschen zur nordischen Mythologie an und schlägt dann den Bogen zurück zu seiner Archetyp-Erklärung. Der „nationale Gott [habe] das Christentum auf breiter Front angegriffen[32] und dies es gefährlich. Man könne die Stabreime der Edda nicht mit der heiligen Schrift vermischen, ohne Gefahr zu laufen, keinem gerecht zu werden. Die Affinität zur nordischen Mythologie würde, gemäß mythologischer Logik, auch den Zorn der Götter (archetypisches Bild) auf den Plan rufen.

In fast nüchterner Beschreibung handelt Jung den Gotteszorn aus Perspektive eines außenstehenden Volkes ab. Im Alten Testament habe es schließlich auch Philister und Aramäer gegeben, denen Jahwe nicht gut gesonnen war. Das gleiche gelte für Allah, oder Thor. [33]

Die Mahnung überträgt sich auf das kollektive Unbewusste in Deutschland. Hitler sei bisweilen deifiziert worden, schreibt Jung, wohl aber nicht mit dem christlichen Gott gleichgesetzt. Somit bliebe als göttliches Bild eigentlich „nur Wotan übrig“.[34] Für ihn ist dies eine Vorausdeutung auf eine ungewisse Zukunft.[35] Jung wird nicht konkret, er beschreibt lediglich die Handlungsweise Wotans und lässt den Leser selbst auf eine Zukunftsvision schließen. Seinen Aufsatz beendet er, fast schamanisch, mit einem Auszug aus der Völuspá, „Was murmelt Wodan mit Mimirs Haupt?“ Diesen hatte er bereits in einem anderen, wesentliche detaillierteren Aufsatz über die Natur der Archetypen verwendet, weshalb es nicht verwundert, dass diese wiederholt wird.[36]

Jungs Aufsatz über die Nachwirkungen des Krieges – „Nach der Katastrophe“

1945 publizierte Carl Jung einen weiteren Aufsatz. Als Motivation nannte er, dass er gern eine Art Stellungnahme zu den Wirren des Zweiten Weltkrieges publik machen würde. Es habe ihn sichtliche Kraft gekostet, nach so langer Zeit seine Gedanken zum Krieg in Europa zu erklären.[37]

Jung beschreibt in diesem Aufsatz das eingangs erwähnte Bild des Wotan-Archetypus und wie es sich, in seinen Augen, bewahrheitet hat. Selbst der Titel „Nach der Katastrophe“, drückt aus, dass Jung es nicht wahrhaben wollte, was er 1936 ahnte. Ebenso drückt er seine Gedanken zu Schuld, Wiederaufbau und Zukunftsvision aus.

Der Aufsatz lässt sich grob in zwei Teile gliedern. Der erste Teil enthält eine Übertragung des Begriffs vom kollektiven, bezieht diesen jedoch auf kollektive Schuld. Was im vorangegangenen Aufsatz „Wotan“, die Idee des kollektiven Unbewussten, als Erklärungsversuch war, ist nun die Frage nach kollektiver Schuld. Diese sei spürbar, so Jung.[38]

Durchweg ist zwischen den Zeilen eine Art Scham-Gefühl zu lesen. Jung sieht sich als zwar als Schweizer und dementsprechend in historisch gefestigter Neutralität, andererseits plagen ihn auch persönliche Erlebnisse mit der Reichsregierung des nationalsozialistischen Deutschlands. Auch seine Texte waren verboten worden und auch er wurde kontextbefreit zitiert, um instrumentalisiert zu werden.[39]

Es überrascht nicht, dass er im zweiten Teil seines Aufsatzes das Bild des Wotans wieder aufgreift und konstatiert, dass seine Befürchtung war, geworden sei. Wotan habe gesiegt und somit hätte sich die Katastrophe entwickelt. Jung bleibt in seinem Fachgebiet, während er versucht, das Handeln Hitlers psychoanalytisch zu erklären. Er nennet es Pseudologica Phantasica[40] und schreibt: Mir scheint, die Geschichte der letzten 12 Jahre [1933-45] sei die Krankengeschichte eines Hysterischen.[41]

Jung beendet seinen Aufsatz mit einer Reflexion über die Aufarbeitung des Einzelnen. Das Verarbeiten von Traumatischen Erlebnissen hat er stets als die Begegnung mit dem Schatten[42] bezeichnet, weshalb er hier auch von der Begegnung mit seinem eigenen Schatten spricht, wenn es um das Gefühl von Schuld und Entsetzen geht.[43]

Bezug der beiden Aufsätze zueinander

Die beiden Essays stehen in zweierlei Bezug zueinander. Einerseits handelt es sich bei ihrer zeitlichen Einordnung um eine historische Rahmung des zweiten Weltkrieges (1936 und 1945) und zum anderen Betrachten sie beide das archetypische Bild des Wotans. Jung ist sich dieser Rahmung bewusst und greift sie zu Beginn des zweiten Aufsatzes explizit auf:

„Am Schluße meines damaligen Aufsatzes habe ich mit dem Zitat aus der Völuspá: ‚Was murmelt Wotan mit Mimir’s Haupt‘ auf die Natur der kommenden apokalyptischen Ereignisse hingewiesen. Der Mythos hat sich erfüllt, und ein großes Stück Europa liegt in Trümmern.“ [44]

Beide Aufsätze behandeln auch das Bild des Archetypen Wotan. Zunächst als potentielle Vorausdeutung, später als Bestätigung der Richtigkeit ebenjener Prognose:

Die Botschaft wurde nicht gehört und das Omen übersehen. Nur der Orgiasmus steckte an und breitete sich aus wie eine Epidemie. Der Rauschgott Wotan hat gesiegt.[45]

Ebenso wie das Wotan-Bild und die Historie, so rahmt auch das Konzept des Kollektiven beide Aufsätze. Wo im ersten Aufsatz (1936) noch von kollektivem Unbewussten, fast akademisch, die Rede war, widmet sich ein erheblicher Teil des späteren Aufsatzes (1945) der Frage nach kollektiver Schuld. Diese Frage zu beantworten, sprengt sowohl für Jung als auch für dieses Essay, den Rahmen.

Das Bild des Wotans als Odin und Allvater

Das Bild des Wotans kommt natürlich nicht aus der Ideologie des Nationalsozialismus, oder gar aus der Feder von Carl Jung. Wotan ist viel älter. Am geschicktesten lässt er sich als der nordische Allvater der Götter charakterisieren. Diese Beschreibung stammt aus der Edda des Snorri Sturluson, welcher ca. 1000 n.Chr. begann, die Geschichten der nordischen Mythologien zu ordnen und zu systematisieren. Aufgrund sprachlicher Unterschiede zwischen Island, Norwegen und dem frühen Germanien gibt es für verschiedene nordische Gottheiten (Thor, Baldur, Freya, etc.) unterschiedliche Namen und Variation von Namen. So kennen wir Wotan auch als Wodan, Odin, Allvater und dergleichen. Da sich die charakterlichen Eigenschaften gleichen und diese im Sinne der Jung’schen Archetypen-Lehre eine Allegorie darstellen, können wir sagen, dass es sich um die gleiche Figur handelt.

Was der Wotan aus Jungs Aufsatz mit dem Allvater Odin auf dem Thron von Asgard gemeinsam hat, ist nicht nur der Charakter, sondern auch die Macht und den Willen, das Ende der Welt (Ragnarök) fristgerecht einzuleiten.[46] Für Jung lag es dort wahrscheinlich auch gerade deswegen Nahe, Wotan als Bild für das kollektive Unbewusste in Deutschland zu wählen, und nicht Thor oder Loki. Wotan/Odin ist zudem mit der Gabe der Vorausdeutung gesegnet und somit in der Lage sein eigenes Handeln besser in den Gesamtzusammenhang einzuordnen. Eine Fähigkeit, die Jung den Deutschen in seinem zweiten Aufsatz, „Nach der Katastrophe“ durchaus abspricht. Er redet dort nicht mehr von kollektivem Unbewussten, sondern von spürbarer kollektiver Schuld.[47] Am Ende seines ersten Aufsatzes lässt Jung den Allvater selbst zu Wort kommen und zitiert Worte aus der Völuspá:

Was murmelt Wodan mit Mimirs Haupte?

Schon kocht es im Quell: die Krone des Weltenbaums

[…]

am Borde den Wolf die wölfische Brut bringt

Wetterstrums Bruder des Weges herbei.[48]

FAZIT

Ist Wotan ein passender Archetyp für das Agieren Deutschlands in der NS-Zeit?

Carl Jung kommt zu dem Schluss, dass das archetypische Bild des Wotans geeignet war, um die Handlungen der Deutschen in der Zeit des Nationalsozialismus zu beschreiben. Er nimmt damit Bezug auf Einzelaspekte, wie das Verhältnis zur Kirche, aber auch auf die Eigenschaften einer einzelnen Herrscherfigur.

Ihm gelingt dabei der Spagat, akademisch zu bleiben und trotzdem politisch zu mahnen. In seinem späteren Aufsatz „Nach der Katastrophe“ konstatiert er, richtig gelegen zu haben. Eine Führungsfigur würde sich nicht immer kohärent nach einem Archetypus verhalten, sondern könnte sich auch wandeln, lautet sein Urteil später. Somit setzt er Hitler nicht mit Wotan gleich, deifiziert und personifiziert nicht, sondern beschreibt seine Beobachtung.

Was bleibt ist eine ungewöhnliche und spannende Studie über das Verhalten eines Volkes zudem eine in sich kohärente Untersuchung der Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges, unter Zuhilfenahme, der von Jung etablierten, akademischen Werkzeuge, nämlich die des Archetypus und des kollektiven Unbewussten. Beide Aufsätze enden mit einem mahnenden Wort, denn schließlich kehrt Wotan nur zurück in die Wälder und stellt den Wanderstab ab – es ist aber nicht auszuschließen, dass „der einäugige Jäger“ erneut aufsteht, um Sleipnir zu satteln.

Literaturverzeichnis

[EDDA] | Hansen Walter, Die Edda. Die germanischen Göttersagen, 27. Auflage, Regionalia, 2022

[LIBER-NOVUS] | Jung, C. G., Sonu Shamdasani, and Christian Hermes. Das Rote Buch – Liber Novus. 2. Aufl. Düsseldorf: Patmos, 2010

[ARCHETYP] | Jung, C. G. Die Archetypen Und Das Kollektive Unbewusste. 2. Aufl. Olten [u.a.]: Walter, 1976

[KATASTROPHE] | Jung, C. G. Nach der Katastrophe, in Aufsätze Zur Zeitgeschichte“,
1.-4. Tsd. Zürich: Rascher, 1946

[WOTAN] | Jung, C. G. Wotan, in Aufsätze Zur Zeitgeschichte“, 1.-4. Tsd. Zürich: Rascher, 1946

Götz, Bruno, Reich ohne Raum, 1. Auflage 1919, Kiepenheuer, Potsdam. 2. vollständige Auflage 1925, Seeverl. Konstanz“

[PETERSON] | Peterson, Jordan, YouTube, Lecture: 2015 Personality Lecture 06: Depth Psychology: Carl Jung (Part 01), www.youtube.com/watch?v=DC0faZiBcG0, (aufgerufen 11.03.24, 10:28)


[1] Gemeint ist damit die Sagensammlung der Edda nach Snorri Sturluson und speziell „Die Weissagung der Seherin“. Siehe auch [EDDA] im Literaturverzeichnis

[2] Siehe [WOTAN], ursprünglich erschienen in der „Neuen Schweizer Rundschau“, 11. Heft, März 1936

[3] Siehe [KATASTROPE], ursprünglich erschienen in der „Neuen Schweizer Rundschau“, 2. Heft, Juni 1945

[4] [LIBER NOVUS] vgl. S. 196 ff.

[5] [ARCHETYP] vgl. S. 8f.

[6] [ARCHETYP] vgl. S. 9f.

[7] [ARCHETYP] vgl. S. 28 ff.

[8] [LIBER NOVUS] vgl. S. 241 und [PETERSON] ab 25:15

[9] [PETERSON] ab 24:05

[10] [ARCHETYP] vgl. S. 9 und vgl. S. 26

[11] [WOTAN] vgl. S. 6

[12] [WOTAN] S. 5

[13] Gemeint ist auch hier die „Weissagung der Seherin“ aus der [EDDA]

[14] [WOTAN] S. 6

[15] [WOTAN] S. 6

[16] [WOTAN] vgl. S. 6, und Nietzsche, Friedrich, Die fröhliche Wissenschaft, Drittes Buch,
    Aphorismus 125 „Der tolle Mensch“ (KSA 3, S. 480 ff.)

[17] [WOTAN] vgl. S.7 ff.

[18] [WOTAN] vgl. S. 6

[19] [WOTAN] S. 9

[20] Jung nennt selbst folgende Quelleangabe: „I. Aufl. 1919, Kiepenheuer, Potsdam. 2.vollst. Aufl. 1925, Seeverl. Konstanz“ ([WOTAN] vgl. S. 10)

[21] [WOTAN] S.10

[22] [WOTAN] S. 10

[23] [WOTAN] S.13

[24] [WOTAN] S. 14

[25] [WOTAN] S. 12

[26] [WOTAN] S. 14

[27] [WOTAN] vgl. S.15ff.

[28] [WOTAN] S. 4

[29] [WOTAN] vgl. S. 18

[30] [WOTAN] S. 19

[31] [WOTAN] vgl. S. 19

[32] [WOTAN] S. 20

[33] [WOTAN] vgl. S. 22 f.

[34] [WOTAN] S. 11

[35] [WOTAN] S.23

[36] [ARCHETYP] vgl. S. 26, An diese Stelle findet sich ein Hinweis, dass diese Passage 1934 verfasst worden sei.

[37] [KATASTROPHE] vgl. S. 75 f.

[38] [KATASTROPHE] vgl. S. 78 ff.

[39] Siehe: Harms Ernest, C. G. Jung – Defender of Freud and the Jews, S. 203, S. 222, zitiert nach E. A. Bennet: C. G. Jung. Einblicke in Leben und Werk. Rascher Zürich, Stuttgart 1963, S. 76

[40] [KATASTROPHE] vgl. S. 92

[41] [KATASTROPHE] S. 101

[42] [ARCHETYP] vgl. S.29 f.

[43] [KATASTROPE] vgl. S. 113 ff.

[44] [KATASTROPHE] S. 75

[45] [KATATSTROPHE] S. 110

[46] Grob paraphrasiert aus der [EDDA]. Die tatsächliche Sage ist weitaus vielschichtiger

[47] [KATASTROPHE] vgl. S. 78 ff.

[48] [WOTAN] S.24

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